Wildnis

Wildnis

Der Mensch bedenkt seinen Platz in der Welt auch nicht viel anders als der Gärtner seinen Platz im Garten. Historiker zeigen die Gartengeschichte als einen Spiegel der geistigen und künstlerischen Ideen einer Epoche. Ebenso zeigt die Landschaftsentwicklung die kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft. Die Bilder unserer Landschaften und Freiräume sind das Abbild gesellschaftspsychologischer Zustände. Die überformenden, ordnenden und strukturierenden Prozesse in einer Landschaft sprechen die Sprache des kontrollierten, denkenden Verstandes und besitzen eine „männliche“ Energie. Die ungeordneten, unkontrollierten, wilden Elemente einer Landschaft dagegen sind dem emotionalen, instinktiven Anteils des Menschen zuzuschlagen und besitzen eine „weibliche“ Energie. Die Erscheinung und der Charakter einer Landschaft sind nicht nur Abbild ihrer Kultur, sondern wirken im Umkehrschluss auch auf die Psyche des Menschen.

In Deutschland ist wenig Wildnis übrig. Die ursprünglichen, einst flächendeckenden Wälder wurden großenteils in Siedlungen, Felder, Wiesen und Weiden umgewandelt. Die übrigen Wälder sind überwiegend bewirtschaftete Forste oder haben sogar Plantagencharakter. Echte Wildnis beschränkt sich auf Gewässer, Gebirge, Nationalparks und Restflächen. Selbst bei sogenannten „Naturschutzgebieten“ handelt es sich oft um Produkte anthropogener Kulturlandschaften die mit hohem Kosten- bzw. Pflegeaufwand erhalten werden. Die nahezu flächendeckende, menschliche Überformung unserer Heimaten hat selbstverständlich berechtigte, wirtschaftliche Hintergründe und ist der dichten Besiedlung Mitteleuropas geschuldet. Nichtsdestotrotz haben wir uns durch das Verschwinden von Naturlandschaften und Wildnis aus unseren Heimaten eines wichtigen Aspekts beraubt. Die Energie- und Stoffflüsse in der Landschaft werden reguliert, kanalisiert und verbaut. Die vitalisierende, erneuernde, potente Lebenskraft der Natur erfährt der Städter heute bestenfalls als penetrantes Unkraut im Gemüsegarten. Oder aber die Naturgewalten fordern ihren Raum zurück, in Form traumatisierender Flut- oder Sturmkatastrophen. Solchen Ereignisse zeigen uns die Grenzen der Beherrschbarkeit auf und mahnen uns mit den Kräften der Natur zu gehen. In den zunehmend urbanen und digitalen Lebenswelten findet eine gesellschaftliche Entfremdung von unseren Ursprüngen statt. Als Gegenbewegung ist eine neue Naturverbundenheit zu beobachten und eine Sehnsucht nach Naturerfahrung. Dies äußert sich beispielsweise in einer steigenden Beliebtheit von Outdoorsport, Bergtourismus oder Urban Gardening.

Das Eintauchen in die Natur erleichtert uns die Verbindung mit tieferen Schichten unserer Intuition und Ursprünglichkeit, die in einer zunehmend rationalen Welt leicht verloren gehen. Die pulsierende Lebenskraft der Wildnis besitzt durch ihre mitreißende Eigenschaft eine reinigende Funktion für den Menschen. Das Erfahren des freien Fließens und Entfaltens der Kräfte in der Wildnis, hat enormes Potential für die menschliche Seele, den Fluss der eigenen Lebenskraft zu verstärken. Eine Gesellschaft, beherrscht von rationalem Denken und analytischem Verstand, braucht Wildnis für die Förderung des Emotional-Intuitiven, für das seelische Gleichgewicht.