Neckarknie Stuttgart
Nichtoffener Städtebaulicher Ideenwettbewerb
Neckarknie Stuttgart – Bad Cannstatt, 2017
1. Preis
in Zusammenarbeit mit silands | Gresz + Kaiser Landschaftsarchitekten PartG mbB, Ulm
BrennerPlan GmbH, Planungsgesellschaft für Stadt, Umwelt und Verkehr, Stuttgart
Matthias Schneider Freier Architekt, Stuttgart
Wolfram Gothe, Architektur & Zeichnung Architekturzeichnungen, München
www.silands.de
www.brennerplan.de
www.architekt-ms.de
www.architektur-zeichnung.de
Freiraumvernetzung
Das Neckartal in Stuttgart ist hoch verdichtet und vielschichtig mit massiven Infrastrukturen überlagert. Der grundlegende Entwurfsgedanke besteht in einer Reduktion der Elemente und einer Vereinfachung der Strukturen am Neckarknie, so dass sprichwörtlich neuer „Freiraum“ entsteht. Die Umstrukturierung am Neckarknie bietet die Chance an der Schnittstelle von Grünem U und Blauem Band eine einmalige Großzügigkeit, Weite und Offenheit für Stuttgart am Neckar erlebbar zu machen. Durch das Freiräumen entsteht eine Durchgängigkeit im Flussraum, die großräumliche Zusammenhänge ablesbar macht, Orientierung im Stadtraum bietet und den Besucher aufatmen lässt. Verblüffende, unmittelbare Sicht- und Wegebeziehungen am Wasser verorten Stuttgart / Bad Cannstatt neu als Stadt am Fluss. Vielfältige, wasserbezogene Freiräume verlagern das urbane Leben Stuttgarts ans Ufer, bieten Raum zur Aneignung und initiieren eine neue Identifikation Stuttgarts am Neckar.
Flussraum erleben
Der Entwurf arbeitet gezielt mit unterschiedlichen Freiraumtypologien am Wasser. Während die Ufer des Seilerwasens bewusst grün und flach gestaltet sind, erhält die Stadtkante der Neckarvorstadt ein steinernes, hohes Ufer. Die Terrassierungen der Uferpromenade ermöglichen dem Besucher den Kontakt zum Wasser und den Aufenthalt auf verschiedenen Ebenen. Die neuen, reinen Fuß- und Radbrücken sind Orte des Flusserlebens über dem Wasser, beim Theaterschiff betritt man ein schwimmendes, hölzernes Floß auf dem Wasser. Die Mittelmole bietet als Insel besonderen maritimen Charme und ist mit ihren Erlebnisqualitäten ein weiterer Baustein und Bereicherung für die Stadt am Fluss. Die unterschiedlichen Typologien, Materialien und Angebote reagieren auf den städtischen Kontext und bieten Aneignungsraum für unterschiedliche Freizeitbedürfnisse. Wiesenböschungen, Sitzkanten, Treppenanlagen, Promenaden und Stege bieten Bewegungsräume und Rückzugsräume gleichermaßen. Schifffahrtanlegestellen, Schleuse und Wehr werden als Räume des Flusserlebens in den öffentlichen Freiraum integriert, dem Besucher erschlossen und als besondere Orte der Sinneserfahrung inszeniert.
Mobilität
Eine deutliche Stärkung des Radverkehrs in Stuttgart Bad-Cannstatt wird vorgeschlagen. Bad Cannstatt wird nahezu auf Luftlinie mit dem Radwegenetz des Grünen U´s verbunden. Auch entlang des Neckars wird großen Wert auf einen breiten, durchgängigen und gut vernetzten Fahrradschnellweg für Radpendler und Radwanderer gelegt. Zwischen der Altstadt Bad Cannstatt und Neckar soll die zerschneidende Wirkung der Straße aufgehoben werden und die Bad- bzw. die Überkinger Straße als Fahrradstraße umgestaltet werden. Durch die Verlagerung des Radverkehrs entspannt sich die räumliche Enge entlang der Rillingmauer sowie des Mühlgrüns. Die Uferwege werden freigegeben für Flaneure und Fußgänger, Radler hingegen können auf der Fahrradstraße zügig Strecke machen.
Angesichts der starken Verkehrsentlastungen in Bad Cannstatt durch den Bau des Rosensteintunnels können die Knotenpunkte Schönestraße-Badstraße sowie Schönestraße-König-Karl-Straße zurückgebaut werden. Der gewonnene Raum wird genutzt um Freiraum am Neckar attraktiv und durchgängig zu gestalten. Im Bereich des neuen Rillingplatzes wird der MIV von der Neckartalstraße auf die Wilhelmastraße verlagert, um der Neckarvorstadt eine große Aufenthaltsqualität am Neckar zu ermöglichen.
Am Seilerplatz, als Anknüpfungspunkt und Auftakt in den Seilerwasen, wird eine neue Bushaltestelle „Seilerwasen“ für die Buslinien 52 und 56 des ÖPNV angebunden. Der Entfall des Busverkehrs in der Badstraße Richtung Wilhelmsplatz, erlaubt dort eine Aufwertung des Straßenraums mit einem begrünten Gleisbett der Stadtbahn.
Seilerwasen
Die zentrale Raumqualität der Neugestaltung des Seilerwasens, ist sein weitläufiges, flaches, grünes Ufer. Am Gleithang der Flussaue werden die namensgebenden Uferwiesen („Wasen“) hergestellt, die Stuttgart schmerzlich vermissen lässt. Der neue Grünraum wird mit nutzungsoffenen, aneignungsfähigen Wiesenflächen und Rasenböschungen, sanft dem Neckar zugeneigt. Die unmittelbar an den Wasserspiegel herangeführten Grünflächen steht in komplementärer Ergänzung zu den massiven Befestigungen der Bundeswasserstraße.
Die Parkanlage spannt sich auf zwischen Cannstatter Wasen im Süden und dem Rosensteinbunker als Leuchtturm und Entreé Bad Cannstatts im Norden. Auf Höhe der Schleuse entsteht ein mit Pappelalleen strukturierter und qualifizierter Durchgangsraum, der zwischen Wasen und Parkanlage vermittelt und auch große Besucherströme aufnehmen und entflechten kann. Der Entfall der alten Rosensteinbrücke befreit den Neckar von einem massiven, querenden Element, verhindert dunkle Unräume am Ufer und gibt den Blick frei auf das Schloss Rosenstein in Spornlage gegenüber.
Mit der 6 m breiten Fuß- und Radbrücke über den Neckar werden die neuen Freiräume des Blauen Bandes direkt mit dem Grünen U in Beziehung gesetzt. Hier wird die wichtigste Freiraumstruktur Stuttgarts mit der Cannstatter Flussseite verknüpft. Über eine 50 m lange Fuß- und Fahrradrampe gelangen die Besucher von dort auf den neuen Seilerplatz, dem Anknüpfungspunkt in den Stadtraum Bad Cannstatts, mit Wilhelmsplatz und Bahnhof Bad Cannstatt. Hier binden auch die Buslinien 52 und 56 mit der neuen Haltestelle „Seilerwasen“ an und die Cafébar Neckarstrand läd ein zum Verweilen und Genießen.
Rhythmisiert durch knickende Richtungswechsel, mit angelagerten Aufenthaltsorten und Sitzgelegenheiten, wird der Haupterschließungsweg durch den Park zwischen Baumhain und offenen Wiesen geführt. Der Weg verläuft leicht erhöht über die Wiesenflächen und bildet attraktive Sitzkanten aus. Auf der stadtzugewandten Seite werden Nutzungsangebote für Spiel und Sport gebündelt, in einem breiten, intensiven Nutzungsband nahe der Stadtkante. Beachvolleyballfelder, Boulodrome, Basketball, Wasserspielplatz, Kleinkind- und Abenteuerspielplatz werden von einem Schatten spendenden Baumhain überstellt.
Mittelmole
Über die angehängte Fuß- und Radbrücke unter der neuen Eisenbahnbrücke, kann die Mittelmole durch eine Rampe barrierefrei erschlossen werden. Eine steinerne Inselspitze dient dem Fußsteg als Brückenkopf und Auflager. Von dort führt eine lange, mit 6% geneigte Rampe über die grüne Mitte hinunter auf das obere sowie das untere Niveau der Schleuse bzw. des Wehrs. Die Höhenunterschiede werden aufgefangen durch skulpturale Rasenmodellierungen der bestehenden, grünen Mitte. Durch die, mit der Schleusenverlängerung einhergehende Vergrößerung der Mittelmole, entstehen zusätzliche Gestaltungsspielräume. Unter Berücksichtigung der Hochwasser- und Verkehrssicherheit ermöglicht ein umlaufender Fußweg, einen Rundweg auf der Mole. Aufenthaltsorte und Sitzgelegenheiten machen Wehr und Schleuse zum industriekulturellen Erlebnis- und Erfahrungsraum. Die Mole strahlt mit Schiffspollern, rustikalen Belagsoberflächen und kreischenden Möwen maritimen Charme. Die Insel mit ihrer einzigartigen, spezifischen Erlebnisqualität bildet einen weiteren Baustein und eine zusätzliche Bereicherung für die Stadt am Fluss.
Stadtbalkon
Die bislang unauffällig in Stuttgart verortete Neckarvorstadt erhält durch einen Stadtbalkon am Neckar einen hochwertigen, urbanen Freiraum am Fluss. Durch die Verlagerung des MIVs von der Neckartalstraße auf die Wilhelmastraße spannt der neue Rillingplatz von den historischen Häuserfassaden bis an den Neckar. Eine großzügige Sitzstufenanlage vermittelt zwischen der oberen Ebene, dem Stadtraum, und der unteren Ebene am Wasser und schafft attraktive Aufenthaltsangebote. Eine mit einer Baumreihe Platanen bepflanzte Bastion schiebt sich über die Sitzstufen hinaus und bietet Aufenthaltsqualität mit Sitzgelegenheiten im Schatten. Die U-Bahn und der Busverkehr werden weiterhin über den Rillingplatz geführt und sorgen mit Ihren Haltestellen für eine gute Umsteigebeziehungen und Anbindungen. Auf der unteren Ebene führt die uferbegleitende Flaniermeile der Neckarvorstadt, von der Mombachanlage kommend, weiter zum Wilhelmavorfeld.
Rillingmauer
Die Neckartalstraße erhält mit einer beherrschenden, zweireihigen Platanenallee, einen Promenadencharakter. Die Blickachsen aus dem Quartier Richtung Neckar werden freigehalten. Mit einer durchgängigen Belagsgestaltung von Gehwegen und straßenbegleitendem Parkierungsstreifen, erhält die Stadtkante auch auf Seite der Siedlung ein großzügiges Vorfeld, das Bewirtung im Freien ermöglicht und die Ansiedlung von Einzelhandel oder Dienstleistern begünstigt.
Durch einen Rücksprung der Rillingmauer erhält die Neckarvorstadt eine höhengestaffelte Flaniermeile, die vom Auquellbrunnen bzw. Mühlsteg bis in Wilhelmavorfeld reicht. Durch lange Rampen und Treppen sind die Terrassenebenen miteinander verbunden. Der Bewegungsraum der Flaniermeile wird auf der unteren Ebene rhythmisiert durch Aufweitungen, Sitz- und Liegeflächen mit Blick aufs Wasser. Die Anlegestellen der Fahrgastschifffahrt sind hier verortet und verleihen dem Raum Anziehungskraft und maritimen Charm.
In Fortsetzung der bestehenden Uferterrasse wird die untere Promenadenebene bei 215,70m üNN fortgesetzt. Dies stellt eine Hochwassersicherheit für mittlere Hochwasserereignisse sicher. Die Promenade wird hochwassersichem Mobiliar und Belagsmaterialien ausgestattet, so dass sie im Extremfall oder einem hundertjährigen Hochwasserereignis keinen Schaden nimmt.
Fahrgastschifffahrt
Die fünf Liegestellen für die Fahrgastschifffahrt werden im Bereich der Rillingmauer angeordnet. Die Anlegestellen für Linienschiffe, Veranstaltungs-, Flusskreuzfahrt- und Gastronomieschiffe dienen als Impuls für die Hinwendung der Neckarvorstadt an den Fluss. Auf den Schiffen finden regelmäßig kulturelle Veranstaltungen und Angebote statt die der Uferpromenade zusätzliche Attraktivität und Anziehungskraft verleihen. Erschlossen werden die Anlegestellen von der unteren Promenadenebene. Mit Führungsdalben und Schwimmfendern können die schwankenden Pegelstände ausgleichen werden. Der Liegeplatz für das Theaterschiff wird flussaufwärts verlagert. Dort bildet es zusammen mit dem Rosensteinbunker und der Stadtterrasse gegenüber ein prominentes Entrée in die Cannstatter Alt- und Innenstadt.
Bunker
Der Bunker wird erhalten und erhält eine seiner exponierten Lage angemessene öffentliche Nutzung. Die bestehende Substanz wird mit wenigen gezielten Eingriffen baulich aufgewertet und um drei rundum verglaste Geschosse aufgestockt. Dadurch entsteht auch bildlich die Wirkung eines „Leuchtturm-Projekts“ für Bad Cannstatt. In der Fuge zwischen dem alten Betonbunker und den neuen Glasgeschossen wird eine umlaufende Aussichtsplattform angeboten, die allen Besuchern offensteht.
Durch das Entfernen einer Geschossdecke entsteht ein räumlich großzügiges Foyer. Die weiteren Bunkergeschosse sollen für Ausstellungen und kulturelle Präsentationen genutzt werden. An zwei Stellen Richtung Süd-West und Nord-West werden große Sichtfenster über zwei Geschosse ergänzt, die das Bunkerinnere mit Tageslicht versorgen und Ausblicke auf den Neckar und Richtung Rosensteinpark ermöglichen.
In den neuen oberen Geschossen soll eine Gastronomienutzung der besonderen Art etabliert werden, mit Rundblick über die Stadt und das Neckartal. Nachts wird die Wirkung durch ein Lichtkonzept besonders inszeniert. Ein zweites, außenliegendes Treppenhaus an der Nord-Ost-Seite gewährleistet einen zweiten baulichen Rettungsweg. Die oberste Geschossdecke wird maximal transparent als Verglasung ausgeführt, so entsteht ein „Cabrio-Charakter“ und man sitzt quasi unter freiem Himmel, den Wolken sehr nah.
Beurteilung durch das Preisgericht
Die Arbeit zeichnet sich durch ihre konsequente Grundhaltung und in vielen Bereichen durch gut durchgearbeitete Lösungsvorschläge aus.
Die großzügige Freiraumgestaltung des Seilerwasens mit der durchgängigen Zonierung mit den flachen offenen Wiesenbereichen findet besonderen Anklang. Die Staffelung von der städtebaulichen Kante an der Schönestraße mit dem Neckartal Radweg, dem Aktionsband für Sport, Spiel und Gastronomie, der Promenade und den weiten Wiesen bis zum Neckar ist sowohl im übergeordneten Zusammenhang als auch für die Nutzer der angrenzenden Quartiere gewinnbringend. Die Ausbildung der Flachwasserzonen und des Neckarstrandes bedarf einer weiteren Ausformulierung. Dies gilt auch für den straßenübergreifenden Seilerplatz und die kleinen dreieckigen Platzbereiche vor den Aktionsbändern.
Der Bunker wird durch den Glasaufsatz städtebaulich inszeniert.
Die konsequente Führung des Hauptradweges entlang der Bebauung auf Seite der Cannstatter Altstadt entlastet die Freizeitbereiche der Fußgänger am Neckarufer. Der Wegfall des Zwei- Richtungs-Radweges in der Neckartalstraße wird bedauert, ermöglicht aber die Weiterentwicklung des Rillingufers. Die Anordnung der Schiffsanlegestellen an der Neckarvorstadt und die Umgestaltung des Rillingufers mit zwei Niveaus und neuen Sitztreppenanlagen ist ein sehr guter Ansatz und belebt den Bereich mit relativ wenig Raumbedarf.
Die Mittelmole wird über Stege, Treppe und Rampe sinnvoll erschlossen.
Die Lösung für den Bereich zwischen Schleuse und Schönestraße schöpft das durch den Rückbau der Tunnelrampe eröffnete Potential als „qualifizierter Durchgangsraum“ nicht richtig aus. Hier entstehen keine neuen Räume mit besonderer Aufenthaltsqualität.
Die Arbeit geht vom Wegfall der Eisenbahnbrücke aus, ist aber auch mit derselben gut denkbar. Da eine Verbreiterung des Rad- und Fußweges unter der neuen Bahnbrücke auf 6 m gegenwärtig nicht in Aussicht steht, wäre eine entsprechende Alternative bei Wegfall zu prüfen.
Die Führung des Straßenverkehrs ist insgesamt überzeugend, die Umlenkung des stadtauswärts führenden Verkehrs aus der Neckartalstraße in die Wilhelmastraße ist gut vorstellbar und schafft die Möglichkeit eines Stadtbalkons und der Aufwertung der Haltestelle Rosensteinbrücke.
Die Arbeit überzeugt insgesamt durch ihre konsequente Haltung und bietet in der Auseinandersetzung mit dem Bestand und den Verkehrsproblematiken im Besonderen in vielen Bereichen Lösungsansätze für die weitere Bearbeitung.